L wie …

, ,

L wie Lesen: Rilke

Heute: Rilke und Gedanken über die Beziehung zwischen Eltern und Kind, wenn man alt wird

Nach „Der Panther“ gehört folgendes Gedicht von Rilke für mich zu den ausdruckstärksten:

Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn,
wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören,
und ohne Füße kann ich zu dir gehn,
und ohne Mund noch kann ich dich beschwören.
Brich mir die Arme ab, ich fasse dich
mit meinem Herzen wie mit einer Hand,
halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen,
und wirfst du in mein Hirn den Brand,
so werd ich dich auf meinem Blute tragen.“

—***—

Direkt davor im Stundenbuch finden sich auch Zeilen, die mich angesichts eines kürzlichen Besuchs bei meiner Mutter besonders berühren. Als wir uns verabschiedeten meinte sie verbittert:

„Es tut mir leid, dass ich kein einziges Wort verstanden habe, das ihr geredet habt“.

Alter, Schwerhörigkeit und Themen, die man nicht mehr teilt – das alles entfremdete uns voneinander im Laufe der Zeit. Aber ich hätte mich mehr bemühen sollen …

Dir ist mein Beten keine Blasphemie:
als schlüge ich in alten Büchern nach,
dass ich dir sehr verwandt bin – tausendfach.

Ich will dir Liebe geben. Die und die….

Liebt man denn einen Vater? Geht man nicht,
wie du von mir gingst, Härte im Gesicht,
von seinen hülflos leeren Händen fort?
Legt man nicht leise sein verwelktes Wort
in alte Bücher, die man selten liest?
Fließt man nicht wie von einer Wasserscheide
von seinem Herzen ab zu Lust und Leide?
Ist uns der Vater denn nicht das, was war;
vergangne Jahre, welche fremd gedacht,
veraltete Gebärde, tote Tracht,
verblühte Hände und verblichnes Haar?
Und war er selbst für seine Zeit ein Held,
er ist das Blatt, das, wenn wir wachsen, fällt.

Und seine Sorgfalt ist uns wie ein Alb,
und seine Stimme ist uns wie ein Stein, –
wir möchten seiner Rede hörig sein,
aber wir hören seine Worte halb.
Das große Drama zwischen ihm und uns
lärmt viel zu laut, einander zu verstehn,
wir sehen nur die Formen seines Munds,
aus denen Silben fallen, die vergehn.
So sind wir noch viel ferner ihm als fern,
wenn auch die Liebe uns noch weit verwebt,
erst wenn er sterben muss auf diesem Stern,
sehn wir, dass er auf diesem Stern gelebt.

Das ist der Vater uns. Und ich – ich soll
dich Vater nennen?
Das hieße tausendmal mich von dir trennen.
Du bist mein Sohn. Ich werde dich erkennen,
wie man sein einzigliebes Kind erkennt, auch dann,
wenn es ein Mann geworden ist, ein alter Mann.

Antwort auf „L wie Lesen: Rilke”.

  1. Myriade

    Sehr beeindruckend!

    Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar