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Hinter dem Abgrund

Abgründe bleiben oft lange Zeit verborgen als gut gehütete Familiengeheimnisse

Ein Beitrag zu Myriades Mosaikstück „Abgründe“ für die Impulswerkstatt:

—***—

In ihrem Traum stand sie am Rand einer Klippe und starrte angestrengt in den undurchdringlichen Nebel, der über dem Abgrund lag.

Endlich löste sich tief unter ihr ein Schatten aus dem dichten Weiß. Ihre Augen wurden zu Schlitzen. Sie versuchte zu erkennen, wer oder was das war. Sie zuckte erschrocken zurück.

Das Wesen, das ihr aus der Tiefe entgegenkam wurde getragen von einem stetig anwachsenden Berg Papier, Briefen, Werbesendungen. Ein aufgerissener, zahnloser Mund, ein schwarzer Rachen, mehr war von dem Gesicht nicht zu erkennen. Als wollte dieses Monster alles rundherum in sich aufsaugen. Keine Augen, nur ein Maul und das Podest: ein Berg, der vor ihr in den Himmel wuchs. MESSIE tönte es bedrohlich.

Entsetzt fing sie an rückwärts zu taumeln, zu flüchten vor dem Ungetüm, aber schon bald war ihr der Rückweg versperrt. Sie war an etwas Weiches, Unförmiges gestoßen, das sich ihr unbemerkt von hinten genähert hatte. Ein tiefes, schnaubendes Geräusch drang jetzt an ihr Ohr und ließ ihr die Haare zu Berge stehen. Jemand oder vielmehr Etwas atmete ihr in den Nacken!

Das Ding hatte keine feste Form, war eher ein waberndes Gebilde, das mal glühend rot, mal bedrohlich schwarz leuchtete und dessen Kern, dessen Seele aus unbezwingbarer Wut bestand – so dicht, dass sie meinte, sie angreifen zu können. Der Gestank der aufgestauten Aggression raubte ihr die Luft zum Atmen.

Gerade als sie dachte, der Strom aus negativen Emotionen würde wie Lava aus den Poren dieser schwabbeligen Wolke schießen und sich über sie ergießen, hörte sie ein leises Pfeifen. Der Ton wurde lauter und schriller und überlagerte bald das ganze entsetzliche Geschehen rund um sie.

Ihre Hände bedeckten die Ohren um den Lärm zu dämpfen. Ihr eigenes Schreien als der Berg vor ihr zu kippen begann und das Wutmonster hinter ihr explodierte, hörte sie selbst nicht mehr.

Schweißgebadet schoss sie in die Höhe. Sie saß aufrecht im Bett und sah sich schwer atmend um. Als die Verwirrung nachließ und die Orientierung zurückkehrte, schlug sie verärgert auf den Wecker der noch immer nervtötend piepte.

„Nur ein Traum, nur ….“ Sie verstummte, schüttelte den Kopf und erhob sich, um ins Badezimmer zu gehen.

In der U-Bahn starrte sie auf ihr Handy:

Ha! sich lachte kurz auf. Der Mann neben ihr sah sie fragend an. Nur ein Traum. Nur ein Alptraum – dachte sie und stieg schnell aus.

Als sie den Wohnungsschlüssel im Schloss umgedreht hatte, musste sie sich mit aller Kraft gegen die Tür lehnen, um die Berge alter Zeitungen dahinter zur Seite schieben zu können.

Jetzt nur nicht die Nerven verlieren, sonst schreien wir uns wieder an. Mit zusammengepressten Lippen zwängte sie sich ins Innere der Wohnung.

Antworten auf „Hinter dem Abgrund”.

  1. Myriade

    Uhhhh, wild, Messie zu sein ist ja eine ganz grausige Horrorvorstellung. Es soll auch eine jener psychischen Störungen sein, die ewig lange unentdeckt bleiben und dadurch immer ärger werden. Den Berg und das Wutmonster, die die Befindlichkeit der Protagonistin darstellen, finde ich genial, sie verdeutlichen die Atmosphäre wunderbar. Gefällt mir sehr !

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    1. m.mama

      Danke.

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  2. Zwischenstand Impulswerkstatt – MYRIADE – La parole a été donnée à l´homme pour cacher sa pensée

    […] 73. M.mamas hinter den Abgründen 30.5. […]

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