Leo schaut mir tief in die Augen. Dann schüttelt er etwas enttäuscht sein Köpfchen und meint: „Ich kann da nichts erkennen.“
Ich nicke zustimmen. „Ich ebenfalls nicht. Zumindest nicht, wenn du so nah vor meiner Nase bist. Ich sehe alles nur verschwommen. Aber mit bloßem Auge kannst du nicht sehen, wie viel Dioptrin meine neue Brille braucht, damit ich wieder klar sehen kann …“
Leo setzt also meine alte Brille auf, reißt sie sich aber gleich wieder entsetzt von der Nase. „Huch, damit ist ja alles unscharf! Die Brille ist definitiv kaputt.“
Ich seufze: „Ja, mit ihr kann ich beim Lesen nicht mehr brillieren, aber auch nicht ohne sie. Der Fluch des Älterwerdens: Die Augen werden schlechter, aber der Weitblick wird besser.“
Ich zwinkere Leo zu.
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Beide Worte, Brille und brillieren leiten sich übrigens vom Französischen ab: briller – glänzen wie ein Beryll. Letzteres ist ein Mineral (Aluminium-Beryllium-Silikat), aus dem Schmucksteine gefertigt werden. Smaragdkristalle sind wohl die bekanntesten Vertreter und eine Beryll-Varietät.
Die Idee für geschliffene Kristall-Linsen als Sehhilfe hatte ein Araber namens Ibn al-Haitam (965-1039). Nachdem Mönche im 13. Jahrhundert dessen Schriften (in Übersetzung) in die Hände bekamen, hielten derartige Sehhilfen auch in Europa Einzug.
Eine Brille braucht jener, der in der Kunst des Lesens oder optischen Erkennens von Dingen freien Auges nicht mehr brilliert.
Einer, der in der Kunst des logischen Schlussfolgerungen stets brillierte war Sherlock Holmes, dessen Fall „The Beryl Coronet“ wir gerade zu Hause studieren. Die Krönung des glänzenden Scheins: Kein Fall ist so wie er auf den ersten Blick wirkt.
Übrigens: Selbst Kurzsichtige können Weitblick haben, aber nach der Durchsicht des Naheliegenden keinen blassen Schimmer. Den haben dafür gerne die glänzenden Smaragde.
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Ich schlage das Herkunftswörterbuch zu und sehe, dass der Gepunktete schon wieder oder noch immer meine Brille auf der Nase hat und angestrengt die Augen zusammenkneift.
Höchst verwundert fragt er: „Und damit bekommst du einen Weitblick und kannst in die Zukunft sehen?!“
Ich nicke bestätigend: „Oh ja, natürlich. Und ich sehe einen Leoparden, der erkennt, dass man nicht alles wörtlich nehmen darf, weil er manchmal auch auf den Arm genommen wird.“
Grinsend schnappe ich mir das Kuscheltier und trage es auf meinem Arm hinaus.
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Nicht jede Form der Brille ist eine Sehhilfe – manchmal dienen sie auch nur dazu, Schurken zu erkennen (#HP, #MadEyeMoody). Wer hier wohl der Schurke ist und wer, der mit Durchblick?
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